Als nächstes Haus auf dem Weg ins Dorf, liegt auf der rechten Seite des Caspershöfener Weges, das sogenannte Bosiensche Haus. Auch dieses Haus ist eine Strohdachkate. Es gehört der Familie des Bauern Eggert. Das Haus hat zwei Wohnungen. In der rechten Hälfte, von der Straße aus gesehen, wohnt der Schuhmacher Otto Littman mit seiner Frau, einer geborenen Bosien.
In der linken Hälfte lebt eine alleinstehende Frau Bosien. In welchem verwandtschaftlichen Verhältnis die beiden Frauen zu einander stehen weiß ich nicht.
Otto Littmann ist für alle im Dorf unser Schustermeister, die korrekte Bezeichnung 'Schuhmacher' gebraucht niemand. Schon als kleiner Junge besuche ich, wie auch andere Kinder, den Meister gerne und das nicht nur wenn Schuhe zur Reparatur gebracht werden sollen. Die Eingangstür auf der Rückseite des Hauses führt in einen Raum von geringer Tiefe, den Frau Littmann als Küche nutzt. Der Herd steht in der Mitte der Wand die der Tür gegenüber liegt. Die Wände sind vollgepackt mit Leisten, die in Regalen lagern. Eine Tür in der linken Wand führt direkt in die Werkstatt. Auch hier sieht man auf jedem freien Platz Leisten. Es sieht aus, als hätte jeder Fuß im Dorf hier seinen Leisten liegen. Direkt unter dem, nach Südosten weisenden Fenster steht der Arbeitstisch, davor der dreibeinigen Schemel, auf dem der Meister sitzt. Auf dem Tisch liegen die Werkzeuge und Werkstoffe griffbereit. Eine mit Wasser gefüllte Glaskugel, die sogenannte Schusterkugel ist in Fensternähe mit einer Schnur, so an der Decke befestigt, dass sie das von außen einfallende Licht bündelt, und der Lichtstrahl genau auf des Meisters Hand fällt.
Wenn es draußen dunkel wird ersetzt eine Petroleumlampe notdürftig das Sonnenlicht. Während der Dämmerung macht der Meister Vesperpause. "Dämmerlicht und Lampenlicht geben zusammen Zwielicht und das schadet den Augen!", ist seine Erklärung. Stundenlang kann ich bei seiner Arbeit zusehen, mit welcher Genauigkeit die Löcher für die Tekse [1] beim Besohlen gesetzt, und die Tekse eingeschlagen werden. Dabei kann der Meister interessante Geschichten erzählen, von früher als es noch spukte. Er hört aber auch aufmerksam zu wenn ich 'mal über zu Hause meckere, wegen immer vernünftig sein müssen, über Essen das nich' schmeckt und dass ich in die höhere Schule soll - aber da komme ich bei Meister Littmann an den Verkehrten:
"Jung ek wöll di moal wat segge: Schoal kannst niemoals jenooch kriege! Ök weer froh jewäse wenn ök hadd mehr lehre kund, oaber wi musste in de Lehr' und oarbeide! Go du man no de höchere Schoal und si dankboar doafär!"[2]
So plachandern[3] wir manchmal stundenlang und ich glaube, auf diese Art hat der gute alte Meister einen unerkannten Blick in das Leben vieler Familien im Dorf. Um das Jahr 1940 lassen seine Kräfte, vor allem die Sehkraft der Augen nach. Mit seiner Frau und der auch schon betagten Frau Bosien zieht er zu seinem Sohn nach Pommern. Über das weitere Ergehen der Familie habe ich keine Informationen.
[1]) = Holznägel zum befestigen der Sohlen auf dem Oberschuh.
[2]) = "Jung' ich will dir 'mal was sagen: Schule kannst du nie genug bekommen. Ich wäre froh gewesen wenn ich hätte mehr lernen können, aber wir mussten in die Lehre und arbeiten. Geh' du man in die höhere Schule und sei dankbar dafür!
[3]) = klatschen, tratschen
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