Das Ende - Eine Erzählung von Horst Buldt †
Es ist im Dezember des Jahres 1944. In der Marinenachrichtenschule, im Örtchen Rantum auf der Nordseeinsel Sylt, ist ein Ausbildungslehrgang für junge Funker zu Ende gegangen. Die geprüften Funker erhalten, bevor sie zu ihren neuen Kommandos fahren eine Woche Weihnachtsurlaub. Einige Lehrgangsteilnehmer haben im Hören und Geben nicht den geforderten Leistungsstandard von 80 Morsezeichen in der Minute erreicht. Sie erhalten keinen Urlaub und werden während der Feiertage in der Kaserne die Wache halten. Nach Weihnachten werden sie in einem Nachlernkurs die nötigen Fähigkeiten erwerben.
Einer dieser Funkanwärter bin ich. Mit etwas Scham und schlechtem Gewissen schreibe ich den Weihnachtsbrief an mein zu Hause. Die Antwort trifft noch vor Heiligabend, zusammen mit einem Päckchen, in der Kaserne ein. Nicht Mutter, wie üblich, sondern Vater hat sich die Zeit genommen den Brief an mich zu schreiben.
Einige Zeilen dieses Weihnachtsbriefes werde ich mein Leben lang in meinem Gedächtnis tragen:
"... und lass es dir nicht Leid tun, dass du keinen Urlaub bekommst. Unser Haus ist voll bis unters Dach, voll mit Soldaten und Flüchtlingen aus den Gebieten im Osten der Provinz und wir sind nicht mehr Herr im eigenen Haus. Mutter hat dir ein Päckchen gepackt. Lass es dir gut schmecken mit deinen Kameraden, denk' dann und wann an uns und vergiss nicht was ich dir damals in Caspershöfen geraten habe:
Immer rechtzeitig Platz machen für die Freiwilligen!
Du weißt wohl was ich meine! Pass auf dich auf!
Herzliche Grüße auch von Mutter und Klaus. ..."
In Geidau setzt nach Neujahr der Winter ein und die Kampflinie rückt unaufhaltsam näher. Am 31. Januar 1945 befiehlt der Ortskommandant der deutschen Truppen die Evakuierung der Zivilbevölkerung. Etwa zweihundert Frauen, Kinder, Alte und Kranke werden mit Schlitten auf verstopften Straßen und Wegen nach Pillau gebracht. Dort finden die meisten Platz auf einem Schiff das sie 'gen Westen bringt. Vater, Mutter und Klaus auf einem offenen Schlepper. Die Temperaturen sinken ab bis auf -20° C.
Die Matrosen auf den Schiffen kämpfen heldenmütig, nicht mehr gegen feindliche Schiffe, sie kämpfen nur für die Sicherheit von Menschen. Sie wollen den Flüchtlingen auf ihren Schiffen ein Los ersparen, dass allzu viele Menschen in Ostpeußen ansehen mussten, wenn es gelang Ortschaften die von der Roten Armee besetzt waren, wieder freizukämpfen!
Die überladenen Schiffe aber sind weder Kriegs- noch Handelsschiffe, es sind ganz einfach nur noch Rettungsschiffe und werden dennoch von der Roten Armee beschossen!
Am 4. Februar erreicht die Kampflinie auch Geidau. Die ersten Rotarmisten und Panzer des berüchtigten Typs T 34, tauchen am Grenzgraben, 200 Meter vor dem Nordostrand des Dorfes auf. Jetzt verlassen die noch Verbliebenen, siebzig bis achtzig Menschen, unter ihnen auch Bruno Huuck mit seiner Familie, auf den seit Tagen fertig gepackten Treckwagen das Dorf. Auf Nebenwegen erreichen sie am Abend Pillau und legen sich in einem leer stehenden Haus zur Nachtruhe. In den nächsten Tagen drängen die deutschen Verteidiger die Frontlinie noch einmal zurück, dabei kämpfen sie die Bahnlinie Königsberg-Pillau wieder frei. Die Kunde davon hört in Pillau auch Bruno Huuck. Er wird unruhig und an einem der nächsten Tage macht er einen Erkundungsritt nach Geidau. Dort findet er zwar einiges durcheinander, Teile der Wohnungseinrichtung liegen auf dem Hof, die Soldaten, es sind noch die gleichen wie vor dem 4. Februar, haben sich aus den Schränken saubere Wäsche genommen aber sonst ist es ruhig im Dorf.
Wieder zurück in Pillau hält er Kriegsrat mit seinen Geidauern und deren Gefährten und sie beschließen: Wir fahren wieder zurück in unser Dorf.
Auch Paul Siegmund ist unter den Heimkehrern. Er findet zwar das Fell seiner Kuh auf einer Leine hängend, aber schnell hat er eine Ersatzkuh im Stall. Schulunterricht gibt er jetzt natürlich nicht mehr, aber dafür übernimmt er andere Aufgaben. Er verteilt die Lebensmittel und die übrigen Waren aus unserem Laden, ob es dabei noch um richtigen Handel geht? Wer will es heut noch wissen? Wenn die Bestände erschöpft sind holt er mit Pferd und Wagen Nachschub aus Königsberg. Im März findet man, nachdem das Eis und der Schnee weg getaut sind im Grenzgraben tote Russen. Auf dem Gelände zwischen Geidau und dem Vorwerk Kallen-Bruch liegen zwei kampfunfähig geschossene russische Panzer. Das Wetter wird frühlingshaft und Bruno Huuck beginnt, mit dem ihm eigenen Idealismus, mit der Frühjahrsbestellung.
Die Rote Armee hat zwischenzeitlich hinter der Front massive Verbände zusammen gezogen. Am 13. April beginnt sie, mit weit überlegenen Kräften an Mensch und Material, den Angriff und steht am Abend des 15. April auf der Linie Kallen - Kauster - Gaffken - Littausdorf mit Stoßrichtung Südwest.
Früh am nächsten Morgen bespannt Bruno Huuck die drei Treckwagen, die er während der ruhigen Tage für die Flucht hergerichtet und gepackt hat. Unter feindlichem Beschuss kann der Treck, mit viel Glück, das Dorf verlassen. Tochter Erika reitet auf einem vierjährigen Trakehner Wallach. Drei Dreijährige führt sie dabei an der Hand, neben oder hinter dem Wagen den ihr Vater kutschiert. Im Treck sind zehn weitere bespannte Wagen, zum Teil von Flüchtlingen aus anderen Orten. Vom Dorfausgang sehen sie, zurückblickend, hohe Flammen über der großen Scheune auf dem Hof Federmann.
Einige Familien bleiben, wie schon oben erwähnt, im Dorf zurück. Noch am gleichen Tag, es ist der 16. April, besetzt die Rote Armee Geidau. Ein undurchdringbarer Mantel legt sich über das Dorf und verdeckt unter sich das Grauen der folgenden Jahre.
Mit dem Verlassen seines Heimatdorfes beginnt für Bruno Huuck und seine Familie, eine Reise uns Ungewisse, ohne Wiederkehr. Zwar müssen unzählige ostpreußische Familien zu dieser Zeit gleiche Strapazen durchmachen, und gleiches oder noch schwereres Leid ertragen.
Dennoch möchte ich im folgenden den Fluchtweg dieser Familie bis zum Ende schildern. Möglich ist mir das durch die genauen Aufzeichnungen von Bruno Huuck und seiner Tochter Erika. Zudem erscheint mir diese Schilderung beispielhaft für viele Andere in jener Zeit.
Die Chaussee Fischhausen - Pillau darf der Treck nicht benutzen. So quält er sie sich achtzehn Stunden über verstopfte Um- und Nebenwegen und liegt dabei immer wieder unter Beschuss aus der Luft. Endlich erreicht er gegen Mitternacht Pillau. Weit mehr als um den vierten Februar herum ist die Stadt vollgestopft mit Flüchtlingen, Verwundteten und natürlich Verbänden der Wehrmacht. Immer wieder gibt es Kontrollen, man sucht unter den Flüchtlingen nach noch einsatzfähigen Personen für den Volkssturm. Jugendliche ab 16 Jahren und rüstig erscheinende Alte werden rücksichtslos rekrutiert.
Bruno Huuck, er hat sich absichtlich seit längerem nicht rasiert und geht betont gebeugt, dadurch sieht er erheblich älter aus als er ist, entgeht so dem Einsatz als Volkssturmmann.
Am 19. April steht die Familie Huuck vor einer ihrer schwersten Entscheidungen: An der Fähre nach Neutief, auf der frischen Nehrung, erfahren sie, dass die Fähre nur Fußgänger mit Handgepäck übersetzt. Alles gerettete Hab' und Gut, samt der Pferde die sie treu bis hier her gebracht haben, müssen sie aufgeben oder auf die vielleicht letzte Möglichkeit in den Westen zu gelangen verzichten. Schweren Herzens entscheiden sie sich für die Überfahrt.
Wie muss es im Herzen eines Menschen ausgesehen haben der mit Leib und Seele Landwirt war und der nun auf einer Fähre stehend sieht wie seine Tiere mit vielen anderen am anderen Ufer zurück bleiben, sich selbst und einer ungewissen Zukunft überlassen?
Das Gepäck auf einem selbst zusammengezimmerten Handwagen, gelangt die Familie, teils in anstrengenden Fußmärschen, teils auf voll besetzten Lkws und auf Fährprahmen, auf die vollkommen überfüllte und unter andauerndem Beschuss stehende Halbinsel Hela. Am 22. April verlässt sie auf dem Frachter "Mathias Stinnes" Hela und geht am 26. April in Kopenhagen an Land.
Nach Internierung in den Lagern Skive und später Grove, darf Bruno Huuck im März 1948, und der Rest der Familie am 19. September 1948, endlich Dänemark verlassen. In dem Dorf Gribbohm, im Kreis Steinburg, findet die Familie ein erstes Unterkommen.
Am Heiligen Abend des Jahres 1948 stirbt hier Tochter Margarete nach längerer Krankheit. Tochter Erika heiratet am 18. März 1950 meinen, ihr schon seit Geidauer Zeiten zugeneigten, Bruder Heinz. Die Hochzeitsfeier wird zur Wiedersehensfeier unter Verwandten und Bekannten.
Im Oktober 1958 bezieht Bruno Huuck mit seiner Frau, in Huje Krs. Steinburg, nach über dreizehn Jahren eigenen Grund und Boden. Im Gebäude einer ehemaligen Tischlerei mit einem Laden für alles, richtet er seine Wohnung mit einem Besuchszimmer auf dem Boden ein. Im Garten werden Gemüse und Kartoffeln angebaut. Das Gebäude bietet Raum für ein paar Schweineboxen. Das verspricht ein kleines Zusatzeinkommen. Zum Grundstück gehört auch eine Minitankstelle, die aber bald den behördlichen technischen Anforderungen nicht mehr entspricht und stillgelegt wird.
Am 01. November 1968 stirbt Bruno Huuck an Leukämie. Er wird, wie Tochter Margarete, Auf dem Friedhof in Wacken beerdigt.
Frieda Huuck bleibt in Huje und erfreut sich noch einige Jahre daran den eigenen Grund und Boden zu bewirtschaften; dabei wird sie von Nachbarn unterstützt, die dann und wann nach ihr schauen. Im Jahre 1986 lassen ihre Kräfte nach und eine schwere Krankheit zeichnet ihr Aussehen. Sohn Erwin, seit 01. Juni 1963 mit seiner Frau Traute geb. Esau, verheiratet, nimmt sie bei sich auf.
Am 20. Juli 1986 stirbt Frieda Huuck in Petluis an Magenkrebs. Auch sie wird auf dem Friedhof in Wacken an der Seite ihres Ehemannes beigesetzt.
Erwin Huuck lebt mit seiner Frau seit Dezember 1986 im eigenen Haus mit reichlich Garten, der gesunde Ernährung garantiert, in Neustadt/Holst. Seine Schwester Erika wohnt seit dem 01. September 1958 in Oldenburg.
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